Die Ostsee röchelt
Unser Güllefass vor der Haustür stirbt – und zieht uns mit. Willkommen auf der Intensivstation Ostsee
Vergesst die romantischen Sonnenuntergänge über dem Meer. Vergesst die idyllischen Urlaubsfotos. Schaut genauer hin. Was ihr seht, ist ein Meer im Todeskampf. Die Ostsee, dieses einst einzigartige Brackwassermeer vor unserer Haustür, ist zu einem schwerkranken Patienten verkommen, angeschlossen an die Maschinen unseres kollektiven Versagens. Sie ist besonders empfindlich, unser kleines Binnenmeer, kaum Austausch mit dem Ozean, eine natürliche Neigung zur Stagnation. Und wir? Wir haben sie behandelt wie eine Müllkippe und eine Heizplatte zugleich. Jetzt präsentiert sie uns die Rechnung in Form eines tödlichen Doppelpacks: Ersticken durch Überdüngung und Fieber durch Klimaerwärmung. Zwei Krankheiten, die sich gegenseitig befeuern und alles Leben darin in den Abgrund reißen.
1. Die Gülleflut: Wie wir unser Meer zur Kloake machen
Jahrzehntelang haben wir Unmengen an "Dünger" in die Ostsee gekippt. Klingt harmlos? Es ist Gift. Stickstoff und Phosphor – Abfälle aus der Agrarindustrie, die ihre Gülle und Kunstdünger auf die Felder kippt, als gäbe es kein Morgen. Überschüsse, die direkt in die Flüsse und dann ins Meer gespült werden. Dazu die Reste aus unzureichend funktionierenden Kläranlagen, die bei jedem stärkeren Regen ihren Dreck ungefiltert ablassen. Und als wäre das nicht genug, der Dreck aus der Luft – Stickoxide aus Verkehr und Industrie, Ammoniak aus den Megaställen.
Was passiert mit all dem Zeug im Wasser? Es wirkt wie Steroide für Algen. Sie explodieren förmlich. Im Sommer bilden sich oft riesige, schleimige Teppiche aus giftigen Blaualgen (Cyanobakterien – merkt euch den Namen, er ist wichtig). Sieht nicht nur widerlich aus, ist es auch. Wenn dieser ganze Algenschleim abstirbt und zu Boden sinkt, beginnt das große Fressen – für Bakterien. Und diese Bakterien brauchen dafür Sauerstoff. Unmengen an Sauerstoff.
Die Folge? Am Boden der Ostsee entstehen riesige "Todeszonen". Gebiete, so groß wie ganze Landstriche, in denen es kaum noch oder gar keinen Sauerstoff mehr gibt. Das sind Leichenfelder unter Wasser. Alles, was dort lebt und nicht fliehen kann – Muscheln, Würmer, Krebse – erstickt elendig. Diese Zonen sind in den letzten Jahrzehnten dramatisch gewachsen, sie gehören zu den größten der Welt. Und das Schlimmste: Selbst wenn wir heute aufhören würden, neuen Dreck einzuleiten, bleibt das Problem. In den Sedimenten lagert das Gift von Jahrzehnten, vor allem Phosphor, das bei Sauerstoffmangel wieder freigesetzt wird. (Sucht einfach mal nach "Legacy Phosphorus"). Ein perverser Kreislauf, die Ostsee vergiftet sich selbst von unten.
2. Das Fieber: Die Ostsee brennt
Als wäre das Ersticken nicht genug, heizen wir dem Patienten auch noch kräftig ein. Der Klimawandel trifft die Ostsee härter und schneller als viele andere Meere. Sie erwärmt sich deutlich über dem globalen Schnitt. Das ist kein kleines Fieber, das ist ein ausgewachsener Hitzeschock für ein Kaltwassersystem.
Die Folgen sind brutal:
Weniger Luft zum Atmen: Warmes Wasser kann physikalisch weniger Sauerstoff aufnehmen. Das verschärft das Erstickungsproblem zusätzlich.
Hyperaktive Zersetzung: Die Bakterien am Boden arbeiten bei Wärme schneller, verbrauchen den knappen Sauerstoff noch rascher.
Der tödliche Deckel: Die Erwärmung verstärkt die natürliche Schichtung des Wassers. Warmes, leichtes Wasser schwimmt oben, kaltes, salziges, schweres Wasser bleibt unten gefangen. Die "Sprungschicht" dazwischen wird undurchdringlicher. Kaum noch Sauerstoff gelangt in die Tiefe. Nur extreme Stürme oder seltene Salzwassereinbrüche aus der Nordsee können diesen Deckel kurz lüften – zu selten, zu wenig.
Arten auf der Flucht (oder im Sterben): Der Dorsch, einst der Brotfisch der Ostsee, findet kaum noch Orte, an denen seine Eier überleben können – zu wenig Sauerstoff, falscher Salzgehalt. Er steht vor dem Kollaps. Andere, wärmeliebende Arten oder gleich invasive Plagen wie die Schwarzmundgrundel mögen sich freuen – ein Tausch von Vielfalt gegen Monotonie.
Kein Eis mehr: Die Winter werden milder, das Eis schwindet. Schlecht für die Ringelrobben, die ihre Jungen darauf zur Welt bringen.
Mehr Giftalgen: Viele der toxischen Cyanobakterien lieben warmes Wasser. Die Erwärmung ist für sie wie eine Einladung zur Party – einer Giftparty auf Kosten des restlichen Ökosystems.
3. Der Teufelskreis: Wenn Ersticken und Fieber gemeinsame Sache machen
Das ist keine einfache Addition von Problemen. Das ist eine Multiplikation des Grauens. Eutrophierung und Erwärmung wirken zusammen wie ein Brandbeschleuniger in einem geschlossenen Raum.
Wärme -> stabilere Schichtung -> weniger Sauerstoff von oben.
Nährstoffe -> mehr Algen -> mehr Zersetzung am Boden -> mehr Sauerstoffverbrauch von unten.
Wärme -> schnellere Zersetzung -> noch mehr Sauerstoffverbrauch.
Wärme -> weniger Sauerstofflöslichkeit im Wasser.
Das Ergebnis? Die Todeszonen werden größer, stabiler, langlebiger. Der Sauerstoffmangel kriecht in immer flachere Bereiche. Es ist eine Spirale des Todes, die sich immer schneller dreht. Ein perfekter Sturm, den wir selbst entfesselt haben.
4. Das große Sterben: Die Biodiversität geht vor die Hunde
Was bedeutet das für das Leben in der Ostsee und an ihren Küsten? Den totalen Umbruch. Einen Kollaps der angestammten Ordnung.
Lebensräume verschwinden: Die Kinderstuben der Fische, die Seegraswiesen, ersticken unter Algenschleim und Lichtmangel. Die Blasentangwälder an den Küsten, einst voller Leben, lösen sich auf, verdrängt von glitschigen Fadenalgen. Am Boden herrscht auf riesigen Flächen der Tod.
Artengemeinschaft im Chaos: Es ist ein "Regime Shift". Die angestammten Bewohner, die Spezialisten, die an die kühle, sauerstoffreiche Ostsee angepasst waren, sterben aus oder ziehen sich zurück. Übrig bleiben anpassungsfähige Generalisten, oft kleinere Fischarten, oder gleich invasive Plagen, die mit den neuen Bedingungen klarkommen. Vielfalt weicht Einfalt.
Giftige Küsten: Die Blaualgenblüten verpesten nicht nur das Meer. Sie werden an die Strände gespült, bilden stinkende Teppiche. Badeverbote sind die Folge, der Tourismus bricht ein. Die Gifte können für Menschen und Tiere gefährlich sein – Hautirritationen, Leberschäden bei Aufnahme. Seevögel und Meeressäuger verenden. Die Anrainerstaaten? Sie dokumentieren das Elend, geben Warnungen heraus, und die zuständige Helsinki-Kommission (HELCOM) produziert schöne Papiere ("Baltic Sea Action Plan") – doch die Umsetzung hinkt der Katastrophe meilenweit hinterher.
5. Unser leerer Teller: Die Nahrungskette reißt
Und was geht uns das an, außer dass der Urlaubsort stinkt? Nun, wir hängen mit drin. Direkt.
Der Fischer holt nur noch Wasser: Die Fischerei, einst Lebensgrundlage ganzer Küstenstriche, erlebt einen beispiellosen Niedergang. Der Dorsch im Osten? Klinisch tot. Der Hering im Westen? Schwer angeschlagen. Die Fangquoten? Ein Witz, oft nur noch ein Bruchteil dessen, was mal möglich war – und selbst das ist oft zu viel. Ganze Flotten rosten vor sich hin, Fischer geben auf. Das ist nicht nur ein wirtschaftliches Desaster, das ist der Verlust von Kultur und Identität. Wir sägen den Ast ab, auf dem wir sitzen – mit Ansage.
Gift auf dem Teller: Wer garantiert uns eigentlich, dass die Toxine der Blaualgen nicht in den Fischen und Muscheln landen, die wir noch fangen und essen? Die Anreicherung von Giften in der Nahrungskette (Biomagnifikation) ist ein reales Risiko. Guten Appetit.
Gift auf dem Teller²: Und dann war da ja noch was. Etwas, das wir seit Jahrzehnten erfolgreich verdrängen, während es leise vor sich hin rostet und tickt: Die Munitionsaltlasten. Man schätzt, dass in Nord- und Ostsee noch immer rund 1,6 Millionen Tonnen (!) Bomben, Granaten, Minen und chemische Kampfstoffe aus den Weltkriegen und der Nachkriegszeit auf dem Meeresgrund liegen. Ein großer Teil davon direkt vor unserer Haustür in der Ostsee. Einfach verklappt, vergessen, Problem auf später verschoben.
"Später" ist jetzt. Die Metallhüllen korrodieren im Salzwasser. Die tödliche Fracht wird langsam freigesetzt. Wir reden hier nicht nur von konventionellen Sprengstoffen wie TNT, das nachweislich krebserregend ist und bereits in Ostseefischen gefunden wurde. Nein, wir reden auch über das absolute Grauen: Chemische Kampfstoffe. Senfgas, Phosgen, Arsenverbindungen – Zeug, das entwickelt wurde, um Menschen auf qualvolle Weise zu töten, gammelt jetzt auf dem Meeresboden vor sich hin und vergiftet unsere Umwelt.
Jede Baumaßnahme am Grund (Pipelines, Windparks), jede Grundschleppnetzfischerei kann zur Katastrophe führen, wenn Munition bewegt wird oder explodiert. Aber auch ohne das: Die Gifte sickern langsam aber sicher in die Sedimente, ins Wasser, in die Nahrungskette. Muscheln filtern das Zeug, Fische nehmen es auf. Und wer steht am Ende dieser Kette? Richtig.
Das ist keine Altlast mehr, das ist eine aktive Bedrohung. Eine tickende Zeitbombe, die wir wissentlich ignoriert haben. Die Kosten und die Gefahren einer Bergung sind heute immens – eine direkte Folge jahrzehntelanger Tatenlosigkeit und Ignoranz. Wieder ein Problem, das wir uns selbst eingebrockt haben und das die bereits schwer kranke Ostsee noch weiter belastet. Wir haben den Patienten mit Lungenentzündung und Herzinfarkt auch noch zusätzlich vergiftet. (Fast hätte ich gesagt, 'jetzt fehlt nur noch teeren und federn', aber dann fiel mir die Globe Asimi ein. Teeren hatten wir also schon.)
Mehr als nur Fisch: Der Tourismus wurde erwähnt. Aber auch andere "Leistungen" des Meeres gehen verloren: Küstenschutz durch gesunde Seegraswiesen, die Fähigkeit, Kohlenstoff zu binden. Alles wird beschädigt, alles kostet – uns, die Gesellschaft.
Der letzte, heisere Weckruf: Hört ihr das Röcheln?
Die Ostsee stirbt nicht leise. Sie erstickt, sie fiebert, sie kämpft – und sie verliert. Das ist keine Übertreibung, das ist der Befund. Wir haben dieses Meer an den Rand des Kollaps getrieben.
Und die Lösungen? Ja, sie liegen auf dem Tisch. Stehen in all den schönen Aktionsplänen:
Schluss mit der Gülle! Radikale Reduzierung der Nährstoffeinträge aus der Landwirtschaft (weniger Dünger, andere Anbaumethoden, Moore wiedervernässen!), Top-Kläranlagen überall, strenge Regeln für Schifffahrt und Industrie.
Runter mit dem Fieber! Globaler Klimaschutz, aber DALLI! Jedes Zehntelgrad zählt, auch und gerade für die Ostsee.
Klingt einfach? Ist es aber nicht. Denn es bedeutet: Umdenken. Es bedeutet, der Agrarlobby auf die Füße zu treten. Es bedeutet, Geld in die Hand zu nehmen für echte Lösungen statt für Augenwischerei. Es bedeutet, unseren Lebensstil, unsere Ernährung zu ändern.
Sind wir dazu bereit? Die letzten Jahrzehnte sprechen eine klare Sprache: Nein. Wir sind Weltmeister im Reden, im Ziele-Definieren, im Aufschieben.
Dies ist kein optimistischer Appell. Dies ist eine Zustandsbeschreibung. Eine Bankrotterklärung unseres Umgangs mit der Natur vor unserer Haustür. Die Ostsee ist der Kanarienvogel im Kohlebergwerk unseres Planeten – und dieser Vogel röchelt nur noch.
Hört genau hin. Vielleicht hört ihr es ja auch. Und vielleicht, nur vielleicht, ist es dann noch nicht ganz zu spät, wenigstens das Schlimmste noch abzuwenden. Aber die Zeit rennt uns davon, schneller als wir Gülle in die Flüsse kippen können.
Mein Dank geht an https://bsky.app/profile/kotzenderstern.breaks.news Kotzender🌟 von Bluesky, der mich auf dieses Thema aufmerksam gemacht hat.
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